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Iphigenie, Corona Shröter, 1779.
Iphigenie auf Tauris oder die Humanisierung des Mythos
Das wichtigste poetische Ergebnis der Italienischen Reise ist zweifellos der Abschluß der Versfassung von Iphigenie auf Tauris und die Vollendung des Egmont 1786 und 1787. Beide Dramen haben Goethe fast während des ganzen ersten Weimarer Jahrzehnts beschäftigt, und sie sind wohl dessen bedeutendstes künstlerisches, aber auch ethisches und politisches Vermächtnis. Iphigenie ist überschattet vom Bewußtsein, daß die Zeit des Schönen, nämlich die große Zeit Griechenlands vorüber ist. Iphigenie wie Orest und Pylades fühlen sich als Repräsentanten einer Spätzeit, die sehnsüchtig-bewundernd zu den Heroen der Vergangenheit zurückblickt. Das ist der moderne, sentimentalisch-romantische Grundzug des Stücks, den zumal Schiller so stark empfunden hat. "Er bewies mir", berichtet Goethe später Eckermann (21. März 1830), "daß ich selber wider Willen romantisch sei und meine Iphigenie, durch das Vorwalten der Empfindung, keineswegs so klassisch und im antiken Sinne sei, als man vielleicht glauben möchte."
Dieses >Vorwalten der Empfindung< drückt sich gleich in Iphigenies Eingangsmonolog aus, befindet sie sich doch im Exil - "das Land der Griechen mit der Seele suchend". Diana hat sie einst nach Tauris entrückt, als sie im Hafen von Aulis der Göttin geopfert werden sollte, um diese für die Überfahrt der Griechen nach Troja günstig zu stimmen. Der Schauplatz des Dramas ist also die Fremde. Sie aber bedeutet für Iphigenie den Verlust "selbstbewußten Lebens", der Selbstbestimmung ihrer Person. Die Situation des Exils wird für sie identisch mit der herkömmlichen Rolle der Frau, gegen die sie immer wieder aufbegehrt. "Ich bin so frei geboren als ein Mann." Der Schutzwall ihrer Selbstbestimmung ist ihre Jungfräulichkeit. Sie verwirft die Ehe mit dem Taurerkönig Thoas, weil sie durch diese Bindung für immer von der Heimat ferngehalten würde und weil sie sich überhaupt gegen die Rolle der Frau im weithin glück- und ehrlosen Schatten des Mannes sträubt. Die entschlossene Selbstbewahrung ihrer Person prägt ihr Verhältnis zu Göttern wie Menschen, hat ethische, religiöse wie politische Aspekte.
Über dem ganzen Drama lastet die Drohung des Menschenopfers. Vor diesem hat die Göttin Iphigenie einst durch ihre Entrückung nach Tauris gerettet. Aber hier soll ausgerechnet die Gerettete als Priesterin alle auf die Insel verschlagenen Fremden Diana zum Opfer bringen. Zwar hat sie Thoas dazu bewegen können, auf dieses grausame Ritual zu verzichten, doch droht seine Wiederkehr, wenn Iphigenie die Hand des Königs ausschlägt.
Iphigenie wähnt sich lange in gänzlichem Einvernehmen mit den Göttern, glaubt, daß diese ihre Familie, ihren Vater Agamemnon, ihre Mutter und Geschwister ebenso glücklich bewahrt haben, wie Diana sie selber gerettet hat. Zug um Zug wird indessen dieser optimistische Glaube zunichte gemacht. Sie muß durch ihren - aufgrund eines zweideutigen Orakels nach Tauris gelangten - Bruder Orest erfahren, daß der geliebte Vater durch die eigene Gattin ermordet, diese von ihrem Sohn erschlagen worden ist - ganz im Stile ihrer Vorfahren, der meuchelmörderischen Tantaliden. Und nun soll sie auch noch – so verlangt es Pylades, der Freund ihres Bruders Orest – König Thoas vorlügen, das Kultbild der Diana, der Schwester Apolls, müsse ans Meer gebracht werden, um dort kultisch gereinigt zu werden – in Wirklichkeit: damit die Griechen es rauben können. Die Entführung des Kultbilds ist nämlich die vermeintliche Bedingung der Rettung Orests vor den Erinnyen, den Rächerinnen des Muttermords, und seiner Heilung vom Wahnsinn. Als Iphigenie also durch die von ihr verlangte Lüge ebenfalls in den Zwangszusammenhang des Verbrechens ihrer Vorfahren hineingezogen zu werden droht, erwacht ihr Zweifel am sinnvollen Walten der Götter. In dieser Situation am Ende des vierten Aufzugs singt sie das dunkel-aufrührerische "Lied der Parzen“ nach dem Sturz ihres Ahnherrn Tantalus.
Sollte die "taube Not" Iphigenie jedoch zum Verbrechen des Kultbildraubs und zum Betrug des Königs zwingen, dann wäre der Beweis für die Unentrinnbarkeit des Tantalidenfluchs, für die Vorherbestimmung auch Iphigenies zum Bösen erbracht. Dieser Fluch ist ein Symbol der Erbsünde, welche die Aufklärung als größtes theologisches Ärgernis empfunden hat, da sie eine Barriere ist, welche den Weg zur menschlichen Selbstbestimmung versperrt. Iphigenie sucht deshalb aus eigener Kraft, auf autonom menschlichem Wege den mythischen Erbzwang, die Kettenfolge des Verbrechens unter den Nachfahren des Tantalus aufzuheben. Das ist mit dem Begriff der "Entsühnung" des Tantalidenhauses gemeint. Auf diese Durchbrechung der Kettenfolge des Verbrechens beziehen sich zweifellos auch die Verse, die Goethe am 31. März 1827 dem Orest-Darsteller Krüger in ein Exemplar der Iphigenie geschrieben hat: "Alle menschlichen Gebrechen / Sühnet reine Menschlichkeit."
Die Bedingung der >Entsühnung<>Reinheit<. Deshalb würde die Lüge den Sinn der Existenz Iphigenies zerstören! Diese eminente Bedeutung des Wahrheitsproblems vebindet Iphigenie mit Immanuel Kants Schrift Über ein vermeintes Recht, aus Menschenliebe lügen (1797) und seinem Traktat Zum ewigen Frieden (1795). Im Gegensatz zur höfisch-absolutistischen Verstellung werden hier Wahrheit und Aufrichtigkeit als "beste Politik" postuliert. Sie allein ermöglichen den ewigen Frieden, während die Verstellung den Krieg ins Unendliche fortsetzt. Allein Wahrheit ist Friede! Das ist die gemeinsame Grundüberzeugung Kants und Goethes. Was Iphigenie über Kants Traktat Zum ewigen Frieden aber hinaushebt, ist die Begründung von Wahrheit und Friede im >Ewig Weiblichen<. "Gewalt und List, der Männer höchster Ruhm" – Machiavelli, der große politische Theoretiker der Renaissance, hat sie im Bilde von Löwe und Fuchs als die beiden wichtigsten Triebkräfte der Politik bezeichnet - "Wird durch die Wahrheit dieser hohen Seele / Beschämt", heißt es am Schluß der letzten Rede Orests.
Seit Bachofens epochemachendem Buch über das Mutterrecht (1861) ist der Atridenmythos, so wie ihn die Orestie von Aischylos dargestellt hat, als Kampf der untergehenden mutterrechtlichen Ordnung - deren Schützerinnen die Erinnyen seien - mit dem in der Heroenzeit aufkommenden und endlich siegenden Vaterrecht gedeutet worden. Anders das mythologische Modell von Goethes Iphigenie: hier weichen die Erinnyen - die Bachofen zufolge bei Aischylos als "Eumeniden" in die neue vaterrechtliche Ordnung integriert werden - nicht einem männlichen, sondern einem weiblichen Recht: dem Recht der Schwesterlichkeit, in der wir das Goethesche Pendant zur aufklärerisch-revolutionären Brüderlichkeit sehen dürfen; diese wie jene lösen eine despotische Vaterordnung ab. Die Lösung des Konflikts und des dramatischen Knotens überhaupt bringt erst die - von Goethe erfundene - >Aufklärung< des Orakelspruchs, demzufolge sich dieser nicht auf das Kultbild der Schwester Apolls, sondern auf die Schwester Orests bezieht. Durch diese Umdeutung des Orakels wird der Einklang des göttlichen Gebots mit den Maßstäben menschlicher Moralität endgültig hergestellt.
Goethe hat seine Iphigenie in späteren Jahren, nämlich in seinem Brief an Schiller vom 19. Februar 1802 als "ganz verteufelt human" bezeichnet. Aus diesem Wort spricht die Skepsis gegenüber der realen Chance der Wahrheit, sich in einer durch das Revolutionszeitalter tiefgreifend veränderten Welt durchzusetzen. Schiller freilich hat auf Goethes skeptischen Brief in seiner Antwort vom 20. Januar 1802 bekannt: "Das, was Sie das Humane darin nennen", werde die "Probe" auf dem Theater "besonders gut aushalten, und davon rate ich, nichts wegzunehmen." Die Wirkungsgeschichte der Iphigenie hat ihm recht gegeben.
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